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Triggerwarnung: Beschreibung von strukturellem Rassismus in der Gesundheitsversorgung, Rassismus als soziale Determinante von Gesundheit, Beschreibung von white privilege, Bezug zu Hanau
Im folgenden Text wollen wir versuchen, die Zusammenhänge von Rassismus und Mehrfachdiskriminierung als soziale Determinante und damit die Notwendigkeit zur Intersektionalität in der Gesundheitsversorgung zu umreißen. Dabei besteht kein Anspruch zur Vollständigkeit.
Der Zugang zu Gesundheitsfachberufen und universitärer Bildung und besonders der zu zugangsbeschränkten Studienfächern wie Psychologie und Medizin ist für viele BIPoC aufgrund von institutionellem Rassismus in Schulen und Universitäten deutlich schwerer zu erreichen, als für weiße Menschen. Diese Zusammensetzung spiegelt sich zum Beispiel auch in unserer weißen Politgruppe wieder. Was dies für einen intersektionalen Ansatz in der modernen Gesundheitsversorgung bedeutet wird schnell klar: Aktuell fehlen wichtige Perspektiven und Impulse und das Gesundheitsystem ist nur eines von vielen Beispielen, was zeigt, dass sich postkoloniale Kontinuitäten in die Welt. Uns ist bewusst, dass wir als Gruppe mit unserer rassismuskritischen und intersektionalen Auseinandersetzung noch am Anfang stehen.
Betroffenheit von Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und weiteren Ausschlussmechanismen kann Ursache für psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen und posttraumatische Belastung sein. Dabei treffen Rassismuserfahrungen und Mikroaggressionen im Alltag, Flucht und andere existenzielle Notlagen BIPoC in hohem Maß und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken. Die genannten Mechanismen können als soziale Determinanten von Gesundheit begriffen werden, die den Zugang zu Gesundheitsversorgung maßgeblich negativ beeinflussen. Zudem wirken auch die äußeren krankmachenden Umstände häufig als Hindernis, sich mit den Erkrankungen auseinanderzusetzen und einen Heilungsprozess zu beginnen. So sagte zum Beispiel Serpil Temiz Unvar, die Mutter von Ferhat Unvar, der am 19. Februar 2020 Opfer des rassistisch motivierten rechtsterroristischen Anschlages in Hanau wurde:
„Was hilft mir ein Therapeut, solange diese Gefahr da ist?“
Die therapeutische Arbeit mit Traumafolgestörungen kann in der Regel erst richtig beginnen, wenn die äußeren Umstände es gestatten und keine akute Bedrohung, Täterkontakt oder aktueller Bezug zum Traumageschehen besteht. Weitere Umstände, die einen Heilungsprozess negativ beeinflussen sind rassistische Polizeigewalt und racial profiling, Versagen von Sicherheitsbehörden, Anschuldigungen Betroffener oder stark in die Länge gezogene, bürokratisierte Asylverfahren, die oft keine Aussicht auf Erfolg haben.
Somit gibt es also erschwerte Zugangsmöglichkeiten zu Gesundheitsfachberufen für BIPoC ebenso wie äußere Umstände, die im Falle einer (psychischen) Erkrankung einen Heilungsprozess behindern. Dazu kommt, dass Gruppen außerhalb der (weißen) Dominanzgesellschaft häufig auch in der (psychischen) Gesundheitsversorgung deutlich benachteiligt sind. So ist es für Schwarze Menschen bedeutend schwerer, einen Therapieplatz zu finden und zu behalten.
Zudem gibt es viel zu wenig antirassistisch geschultes Fachpersonal mit machtkritischen und traumasensiblen Ansätzen und es herrscht ein Mangel an Therapeut*innen, Ärzt*innen und Psycholog*innen of Color, insbesondere in Sachsen. Daraus ergibt sich z.B. die Problematik, dass BIPoC in einem Therapiesetting ihre eigene Betroffenheit erklären müssen, wenn sie mit ungeschultem Fachpersonal arbeiten. Dies kann unter Umständen auch retraumatisierend wirken.
Medizinische Forschung und Fachliteratur orientiert sich an weißen cis-männlichen Körpern, was mitunter tödliche Folgen für Schwarze Menschen haben kann, wenn z.B. ihre Hautfarbe bei Diagnosestellungen nicht berücksichtigt wird. Viele Krankheiten, z.B. Meningitis, manifestieren sich als rötlicher Ausschlag auf der Haut auf weißen Körpern. Die Symtomatik auf Schwarzen Körpern sieht dagegen deutlich anders aus. Auch FLINTA* oder Menschen mit Behinderung, werden von der Zentrierung auf weiße, cis-männliche Körper in der Medizinforschung und Literatur strukturell benachteiligt.
Eine weitere soziale Determinante ist die Verschränkung der Themenbereiche Arbeit und Gesundheit. Migrant*innen, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderung und FLINTA* sind unverhältnismäßig oft in prekären Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnsektor mit erhöhtem Infektionsrisiko beschäftigt. Insbesondere während der Covid 19 Pandemie sind sie einem deutlich heraufgesetzten Risiko ausgesetzt, zu erkranken. Eine Studie vom Robert Koch Institut (16.3.2021) zeigt, dass in sozial benachteiligten Regionen Deutschlands die Covid-19-Todesfälle deutlich höher waren, als in weniger benachteiligten Teilen.
Auch ohne Corona arbeiten die genannten Gruppen unter krankmachenden Bedingungen, während ihnen Gesundheitsversorgung als soziale Ressource eher verwehrt bleibt.
Die Covid-19-Pandemie hat auch bestimmte Rassismen weiterhin verstärkt oder sichtbar gemacht, so zum Beispiel Anti-Asiatischen Rassismus oder Rassismus gegen Sinti*zze und Roma*nja. Hier werden in öffentlichen Diskursen rassistische Fremdzuschreibungen mit vermeintlichen infektionsauslösenden Geschehen (der Markt in China, Spargelstecher*innen etc.) in Verbindung gebracht und rassistische Ressentiments und Gewalt befeuert.
Daher sind unsere Forderungen
- (Post-) koloniale und (post-) nationalsozialistische Verbrechen und ihre Auswirkungen auf unser heutiges Zusammenleben müssen kollektiv anerkannt werden.
- Verantwortung in rassistischen, sexistischen, ableistischen, klassistischen, queer- und transfeindlichen, fatshamenden, ageistischen und weiteren Kontexten muss konsequent übernommen werden und in einer selbstkritischen Auseinandersetzung münden. Wir sind alle Täter*innen.
- Medizinische und psychosoziale Gesundheitsversorgung muss für alle Menschen zugänglich sein.
- Vom Asylverfahren bis zur Physiotherapie: Medizinisches und psychosoziales Fachpersonal muss machtkritisch, antirassistisch und traumasensibel ausgebildet sein.
- Fachliteratur und Medizinforschung muss Diversität abbilden und darf nicht nur von cis-männlichen, weißen Körpern ausgehen.
- Die interdisziplinäre und intersektionale Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene muss gefördert werden.
- Der Zugang zu gesundheitspolitischen Berufen sollte so gestaltet sein, dass gesellschaftliche Diversität abgebildet wird.
- Arbeitsbedingungen sollten für alle Menschen nicht nur auf dem Papier sondern auch in der Realität sicher sein.
- Wir hoffen, dass durch diesen Text die Hürde niedriger wird, sich mit einem Anliegen an uns zu wenden und unsere Beratungsangebote wahrzunehmen. Wir wissen, dass dies ein enormer Vertrauensvorschuss ist! All die beschriebenen Zustände können nicht so bleiben und wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sie sich ändern.
Glossar:
- BIPoC: Black, Indigenous, People of Color
- FLINTA*: Female, Lesbian, Intersexual, Non-Binary, Transsexual, Asexual,*
- cis-gender: Geschlechtsidentität entspricht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht
Quellen und Weiterbildung:
Bücher
- Exit Racism – Tupoka Ogette (genutzt auch als Beitragsbild)
- Der weiße Fleck – Mohamed Amjahid
- ‚Mind the gap – A handbook of clinical signs in Black and Brown skin‘ – Malon Mukwende; free Download:
- Desintegriert euch – Max Czollek
- Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche – Reni Eddo-Lodge
- Sonne für die Seele – Selbsthilfebuch für traumatisierte Flüchtlinge (Self-help handbook for refugees). Download gegen Spende hier
Einzelpublikationen
- Reformen reichen nicht – Vanessa E. Thompson (Missy Magazine 2/21, S. 50ff)
- Eine welt ohne…Psychiatrie – To Doan (Missy Magazine 2/21, S. 55)
- Der Kampf für Ferhat – Konrad Litschko
- Warum verdienen sie so wenig? – Fabian Hillebrand
- The Bizarre and Racist History of the BMI
- Entkolonialisierter Lehrplan – Natasha Foote
Podcasts
- Advieh-Podcast – Pajam (Spotify)
- Public Health Podcast (Folge 25) – Rassismus als soziale Determinante
- Somali Vendetta – Intersectional Feminism (Redebeitrag zum feministischen Frauenkampftag am 8. März)
Podium
- Die beste Instanz – Enissa Amani
Projekte/ Vereine
- Phoenix e.V. (Antirassismus- und Empowermenttrainings)
- Queer Black Therapy Fund
Studien
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